Strahlentherapie im Alter – Fokus auf die Lebensqualität

  • Beitrag von DEGRO
  • Datum: Juni 2019

Die Altersentwicklung in Deutschland wird künftig für die medizinische Versorgung eine Herausforderung darstellen. Gerade bei der Krebsbehandlung wird zurzeit diskutiert, wie mit dem „grauen Tsunami“, der erwarteten drastischen Zunahme älterer Patienten, umzugehen ist. Im Rahmen patientenzentrierter, interdisziplinärer Versorgungskonzepte ist die Strahlentherapie eine effektive Möglichkeit, Leben zu verlängern ohne dabei die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Wie wichtig aber ein spezialisiertes, individuelles geriatrisch-onkologisches Betreuungskonzept für die Lebensqualität in der Zeit nach der Bestrahlung ist, zeigen nun Daten aus der PIVOG-Folgestudie – vorgestellt auf dem DEGRO-Kongress 2019.

Die wachsende Zahl alter Menschen bringt für etliche medizinische Bereiche Herausforderungen mit sich – in diesem Kontext wird im deutschen Sprachraum oft vom „grauen Tsunami“ gesprochen (analog zu „Silver Tsunami“). In Europa weist Deutschland neben Italien die älteste Bevölkerung auf [1]: Über 20% der Einwohner sind hier älter als 65 Jahre. Innerhalb Deutschlands gibt es relativ große regionale Unterschiede mit „Hot Spots“ der Überalterung in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Da es entsprechend auch immer mehr und immer ältere Krebspatienten bis jenseits von 80 Jahren gibt, ist gerade die Versorgung der alten und sehr alten geriatrisch-onkologischen Patienten ein besonders drängendes Problem.

Für diese Patienten ist neben einer Lebensverlängerung die unmittelbare, aktuelle Lebensqualität durch bzw. während der Krebstherapie besonders wichtig. Es ist individuell zu prüfen, ob und wie ein alter Mensch von einer Krebstherapie optimal profitieren kann. „Eine kalendarische Altersgrenze für eine Therapie wird es dabei nie geben, da das biologische Alter entscheidend ist – so können 80-Jährige wie Anfang 70, aber auch wie über 90 Jahre anmuten“, erklärt Prof. Dirk Vordermark, Direktor der Universitätsklinik für Strahlentherapie in Halle. Das Vorgehen sollte mit dem Patienten und ggf. den Angehörigen gemeinsam besprochen werden, davor müssen alle geriatrischen Aspekte beurteilt werden („geriatrisches Assessment“). Wenn es bei der jeweiligen Tumorart möglich ist, fällt
bei alten Menschen häufig die Entscheidung zugunsten einer, meistens alleinigen, Strahlentherapie, aber die Kombination mit einer milden Chemotherapie ist möglich. „Das bedeutet aber nicht, dass wir nur palliativ bestrahlen – eine kurative Zielsetzung ist ungefähr bei der Hälfte der Patienten noch möglich“, betont Prof. Vordermark. „Eine Bestrahlung ist hocheffektiv, aber dennoch gut verträglich bzw. nebenwirkungsarm – beispielsweise im Vergleich zu vielen zur Wahl stehenden Chemotherapien. So ist beispielsweise bei alten und hochaltrigen Patienten im Frühstadium des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms die Hochpräzisionsbestrahlung bereits etabliert und so gut verträglich, dass nach einer neuen Studie [2] selbst zusätzliche Informationen des geriatrischen Assessments nur einen geringen Einfluss auf die Behandlungsergebnisse einschließlich der Lebensqualität während der Bestrahlungszeit hatten.“

Während in der Bestrahlungsphase die Lebensqualität hochaltriger Patienten in der Regel durch gute  Planung, Überwachung und eventuelle Supportivmaßnahmen gut zu stabilisieren ist, so lässt sich jedoch nach dem Ende der Therapie über Monate hinweg häufig eine deutliche Verschlechterung der
Lebensqualität beobachten [3] – woraus abzuleiten ist, dass hier spezifische Versorgungskonzepte entwickelt werden müssen. Die PIVOG-Studie [4] konnte
erstmals zeigen, dass einer Verschlechterung der Lebensqualität in der Zeit nach der Therapie mit einer komplexen Intervention vorgebeugt werden kann („patientenzentriertes interdisziplinäres Versorgungskonzept für onkologisch-geriatrische Patienten“, PIVOG). Sie untersuchte und belegte den Nutzen eines geriatrischen Assessments mit patientenberichteter Lebensqualität und regelmäßiger telefonischer Nachsorge bzw. Befragung und individueller Beratung durch eine onkologische Fachpflegekraft. Die PIVOG-Studie wurde im Dezember 2018 mit dem „Lilly Quality of Life Preis“ (1. Preis) ausgezeichnet.

Aktuell wurde auf dem DEGRO-Kongress eine weiterführende Arbeit in Folge der PIVOG-Studie vorgestellt [5]. Die prospektive Beobachtungsstudie sollte beeinflussbare Faktoren identifizieren, die sich in der Zeit nach der Krebstherapie bei alten und sehr alten Menschen negativ auf die Lebensqualität auswirken – besonders im Hinblick auf die körperliche Funktionalität. 40 Tumorpatienten (16 Frauen, 24 Männer) im Alter von mindestens 65 Jahren (im Mittel 74,4 Jahre)
wurden vor dem Beginn einer Strahlentherapie sowie nach sechs und (noch ausstehend) zwölf Monaten untersucht. Am häufigsten war Lungenkrebs (n=19), 26 Patienten erhielten eine kombinierte Strahlenchemotherapie. Dokumentiert wurden Assessment-basierte und patientenberichtete Angaben (mündliche sowie postalische Befragungen). Dazu gehörten unter anderem basale und erweiterte Alltagskompetenzen (ADL/Activities of Daily Living und IADL/instrumental Activities of Daily Living). Dies sind beispielsweise Toilettengang, Duschen, Anziehen, Essen und Trinken, Telefonieren, Einkaufen, Hausarbeiten, Benutzung von
Verkehrsmitteln, Planung, Umgang mit Geld und Urteilsvermögen. Der Ernährungsstatus wurde anhand von Bioimpedanzanalysen, sowie der Eiweißkonzentration (Albumin) im Serum ermittelt.

Hinzu kamen Angaben zu Nikotin- und Alkoholkonsum, Kognition, sozialer Situation, Stimmungslage/Depressivität (Depressionsmodul PHQ-9), frühere und aktuelle körperliche Aktivität und Tests zu den körperlichen Funktionen (Handkraft, Aufsteh- und Gehtests). Im Ergebnis zeigte sich bereits bei der ersten Folgeuntersuchung sechs Monate nach der Therapie – gemessen an der körperlichen Funktionalität – ein klinisch relevanter Verlust gesundheitsbezogener
Lebensqualität (HRQOL/Health-related quality of life: von durchschnittlich 79,8 auf 65,0 Punkte), eine Zunahme von Bewegungseinschränkungen sowie der Fatigue-Symptomatik. Mit der körperlichen Funktionalität korrelierten dabei am stärksten das Serumalbumin und der PHQ9-Score.
„Wir konnten in der Studie wichtige, potenziell modifizierbaren Faktoren für einen Verlust an Lebensqualität bei alten Menschen in der Folgezeit nach der Strahlentherapie identifizieren“, fasst Prof. Vordermark zusammen. „Dies sind individuelle körperliche Aktivität, mentale Gesundheit
einschließlich der sozialen Situation sowie der Ernährungszustand.“ „Um Lebensqualität und körperliche Funktionalität älterer Krebspatienten langfristig zu erhalten, bedarf es offensichtlich eines ganz neuen geriatrisch-onkologischen Gesamtkonzeptes, beginnend mit dem geriatrischen Assessment und möglichen Supportivmaßnahmen, gefolgt von einer gezielten Nachsorge einschließlich einer Prophylaxe von körperlichen Funktionsverlusten“, so Frau Prof. Dr.
Stephanie E. Combs, Pressesprecherin der DEGRO. Nach der kommenden Auswertung der 12-Monats-Daten will das Studienteam zielgruppenorientierte
Interventionsstrategien entwickeln und in weiteren Studien überprüfen, ob sich die beschriebenen Risikofaktoren positiv beeinflussen lassen.

Literatur

[1] Vordermark D. Entscheidungsfindung und Therapieplanung bei geriatrisch onkologischen Patienten. Vortrag auf der
Jahrestagung der European Society of Radiation Oncology (ESTRO), Mailand 2019
[2] Jeppesen SS, Matzen LE, Brink C et al. Impact of comprehensive geriatric assessment on quality of life, overall survival,
and unplanned admission in patients with non-small cell lung cancer treated with stereotactic body radiotherapy. J Geriatr
Oncol 2018; 9 (6): 575-82
[3] Kaufmann A, Schmidt H, Ostheimer C et al. Quality of life in very elderly radiotherapy patients: a prospective pilot study
using the EORTC QLQ-ELD14 module. Support Care Cancer 2015; 23(7): 1883-92
[4] Schmidt H, Boese S, Lampe K et al. Transsectoral care of geriatric cancer patients based on comprehensive geriatric
assessment and patient-reported quality of life – Results of a multicenter study to develop and pilot test a patient-centered
interdisciplinary care concept for geriatric oncology patients (PIVOG). J Geriatr Oncol 2017; 8(4): 262-70
[5] Kooymann J, Medenwald D, Golla A et al. Die Entwicklung der körperlichen Funktionsfähigkeit älterer Krebspatientinnen
und Krebspatienten vor und 6 Monate nach Tumortherapie – eine prospektive Beobachtungsstudie. P18-6-jD. DEGRO-
Kongress, Münster 2019

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